Was macht eine Freundschaft aus?
Du sitzt im Rollstuhl und hast trotzdem Freunde?
„Du sitzt im Rollstuhl und hast trotzdem Freunde?“ Manch einer wird es für unmöglich halten, aber es gibt sie wirklich: die Menschen, die nicht verstehen können, dass ein Mensch mit Behinderung, ein Mensch im Rollstuhl Freunde hat. Die, die sich mit der ernsthaften Fragestellung auseinandersetzen, warum man „sich mit so jemandem abgibt“. Das sind die, die dann solch geistreiche Sätze zu Tage fördern wie „Toll, dass deine Freunde immer noch zu dir stehen.“
Äh, ja… toll! Es verdient eine ganz besondere Auszeichnung, dass sie sich mir annehmen, und sich sogar in der Öffentlichkeit mit mir sehen lassen. Oder… hm… Moment mal… wie wär´s, wenn wir diese samariterhaften Leistungen einfach auf das reduzieren, was sie sind? Nämlich nichts besonderes. Lasst uns doch einfach so tun, als wäre ich ein ganz normaler Mensch, der ganz normale Sachen tut. Mit ganz normalen Freunden, die weder Heldentaten vollbringen, noch das Bundesverdienstkreuz verdienen, dafür dass sie Zeit mit mir verbringen.
Warum mögt ihr eure Freunde? „Weil sie laufen können“ scheint mir doch ein ebenso trauriger Grund für eine Freundschaft zu sein wie „weil sie immer funktionieren“ oder „weil sie keinen Schwerbehindertenausweis besitzen“. Hat euch schonmal jemand die Freundschaft gekündigt, weil ihr nicht mehr gut seht und eine Brille braucht? Nein? Tja, warum auch… ob Gehbehinderung, Sehbehinderung oder sonst was, das ist doch alles irgendwie das gleiche. Mit dem einzigen Unterschied, dass eine Brille irgendwie immer noch als gesellschaftsfähiger gilt als ein Rollstuhl.
Nach diesem kleinen Umweg in die Welt der ignoranten Ignoranten will ich schnell wieder zum eigentlichen Thema kommen.
Was sind Freunde?
Laut Wikipedia bezeichnet Freundschaft „ein auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander, das sich durch Sympathie und Vertrauen auszeichnet. Eine in einer freundschaftlichen Beziehung stehende Person heißt Freund bzw. Freundin.“
Freundschaft ist vielseitig
Normalerweise schließt ein Mensch in den Jahren, die er auf der Erde wandelt, nicht nur eine Freundschaft. Im Laufe des Lebens kommen welche hinzu, andere gehen in die Brüche. Manche Freunde begleiten einen das ganze Leben lang, bei anderen ist es ein Auf und Ab. Es gibt Freundschaften, die in die Tiefe gehen und welche, die eher oberflächlich bleiben.
Aufbauend auf dieser Vielfältigkeit geht es im folgenden Abschnitt um die verschiedenen Freundschaften, die ich in meinem Leben verzeichnen kann. Ich denke, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass auch ihr den ein oder anderen kennt, den ihr direkt in eine meiner Schubladen stecken wollt.
Verschiedene Kategorien von Freundschaften
Freunde, die man schon immer kennt
Wenn ihr auf die Frage: „Und woher kennt ihr euch?“ nicht direkt mit „von der Arbeit“, „aus dem Fitnessstudio“ oder „über die Kinder“ antworten könnt, sondern euch nach kurzem Überlegen einfällt, dass ihr euch irgendwie einfach schon immer kennt, dann ist eure Freundschaft in dieser Kategorie richtig verortet.
Auf´m Dorf ist das ja sowieso ganz oft so. Da kennt man sich eben einfach. Da kannte der Papa schon den Papa, die Oma schon die Oma und spätestens 3 Generationen obendrüber sind sowieso alle irgendwie miteinander verwandt.
Bei mir persönlich sind es genau diese Menschen, die eine feste Konstante in meinem Leben darstellen. Die mir die Sicherheit geben, dass – egal was passiert – sie immer da sind. Auch wenn sie ganz oft eben nicht da sind. Oder besser gesagt: ich nicht da bin. Dann liegen mittlerweile halt mal 500 Kilometer Wegstrecke zwischen unseren Wohnorten. Na und?
Dass wir uns nicht mehr einfach so spontan auf einen Kaffee oder ein Bier oder einen Spaziergang treffen können, finde ich auch schade. Genauso doof ist es, die Kinder der Freunde nicht aufwachsen zu sehen. Für die bin ich irgendwann nur noch die Freundin von Mama oder Papa, die so weit weg wohnt und die sie vielleicht 2 mal im Jahr sehen.
Ja, manchmal ist es echt scheiße so weit weg zu sein. Und trotzdem wird daran die Freundschaft nicht zerbrechen.
Freunde aus Kindertagen
Wenn eure Antwort auf die Frage von oben „Wir kennen uns aus dem Kindergarten“ oder „Wir haben als Kinder zusammen gespielt“ lautet, dann habt ihr vielleicht – wie ich – einen Freund oder eine Freundin, mit der euch etwas ganz besonderes verbindet: eine Kinderfreundschaft. Nicht zwingend muss man dauerhaft den Kontakt gehalten haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man ohne Probleme 10 Jahre und länger nichts von dem jeweils anderen mitbekommen kann, und trotzdem diese besondere Verbindung spürt, sobald man sich wieder sieht.
Jugendfreunde
Ebenso wie mit den Freunden aus Kindertagen, verbindet mich mit den Freunden, mit denen ich meine Jugend verbracht habe, etwas ganz besonderes. Diese intensive Zeit der hormonellen Umstellung, der Veränderung, des sich-neu-Entdeckens, des auch-mal-über-die-Stränge-Schlagens, ist einzigartig im Leben. Ich glaube, dass die Zeit, in der man mit Freunden über den ersten Kuss, das erste Mal, die körperlichen Veränderungen usw. redet, so exklusiv ist, dass sie mit nichts anderem zu vergleichen und deshalb unersetzbar ist.
Freunde, die auf seltsame Weise ein Parallelleben zum eigenen Leben zu leben scheinen
Tja, keine Ahnung ob ihr das kennt: Ein Freund, dessen Leben auf gruselige Weise irgendwie parallel zum eigenen Leben verläuft? Ich habe eine solche Freundin.
Also, wie meine ich das, ein Parallelleben? Das heißt natürlich nicht, dass alle Einzelheiten immer zwangsläufig übereinstimmen. Aber über einen längeren Zeitraum betrachtet – in unserem Fall sprechen wir hier von ziemlich genau 32 Jahren – scheinen sich einige der wichtigsten und einprägendsten Erlebnisse und Erfahrungen irgendwie immer in unser beider Leben zu spiegeln. Manchmal passiert das mit 1 oder 2 Jahren Verzögerung, manchmal aber auch beängstigend gleichzeitig.
Um das klarzustellen: wir reden hier nicht von relativ gut planbaren Lebensentscheidungen wie der ersten eigenen Wohnung, einer Hochzeit oder der Anschaffung eines Haustieres. Wir reden über Sachverhalte, die man selbst nicht in der Hand hat, wie z.B. den Verlust eines nahestehenden Menschen, die Umstände, wie es dazu gekommen ist oder die Neukonstellation von Familienkonstrukten. Wir reden von gesundheitlichen Problemen und von zufälligen Ereignissen, die unsere Persönlichkeiten formen und unsere Leben in nicht geringem Maße verändern. Dabei entdecken wir von Zeit zu Zeit erschreckend detailreiche, gleiche Wendungen und Hintergründe.
Zum Glück gibt es aber auch immer mal wieder individuelle Abweichungen. Denn nicht jede von uns muss jede Erfahrung teilen, um sich vorstellen zu können, wie es der anderen damit geht.
„Freunde“, die nur solange „Freunde“ sind, bis man krank wird
Hier habe ich die „Freunde“ absichtlich in Anführungszeichen gesetzt. Vielleicht seht ihr das anders, aber für mich persönlich verdienen diese Menschen die Bezeichnung „Freunde“ nicht wirklich.
Man sollte denken, dass durchaus eine gewisse Menge Schwermut oder Sentimentalität mitspielt, wenn der Abstand zu Menschen, die einen jahrelang durch´s Leben begleitet haben, größer wird. Am Anfang konnte ich auch nicht richtig verstehen, warum eine „Freundin“ sich von mir abgewendet hat, als ich krank wurde. Ich war wütend, verständnislos, vor allem aber enttäuscht darüber, dass ich ihr anscheinend nicht mehr das wert bin, was ich ihr in jungen, gesunden Tagen wert war. Immer wieder habe ich gesagt: „Ich kann doch nichts dafür, dass ich krank geworden bin. Ich kann nichts dafür, dass ich die Dinge, die wir immer gerne zusammen gemacht haben, nicht mehr machen kann.“
Zahllose durchzechte Nächte, wochentägliche Cocktail-Exzesse in der Dorfkneipe, 12-stündige Badesee-Ausflüge, stundenlange Strandspaziergänge, leichtsinnige Landausflüge mit Einheimischen in gefährlichen Ländern, nächtliche Streifzüge und Beobachtungsfahrten durch´s Dorf, spontane Nacht-, Schnee- oder Waldwanderungen, bescheuerte Fotosessions auf felsigen Abhängen, endlose Kniffel-Orgien, preisverdächtige Dichtkunst-Ergebnisse,…
Das alles war Teil unserer Freundschaft, gehört nun aber der Vergangenheit an. Ich denke, wenn der Großteil dessen wegbricht, was eine Freundschaft ausmacht, dann kann man sich noch so viel Mühe geben, dann ist die Freundschaft wohl in den seltensten Fällen zu retten. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass sie das wahrscheinlich ein bisschen früher kapiert hat als ich. Von dem Punkt an, als diese Erkenntnis auch mich erreicht hat, fiel es mir erstaunlich leicht, mich emotional von ihr zu lösen.
Ich hege weder Hass, noch Groll, noch Ärger darüber, dass ich so viele Jahre, so viele Gefühle mit ihr geteilt habe. Es war eine schöne Zeit. Wir hatten viel Spaß. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich diese Zeit und unsere Freundschaft nicht trotzdem manchmal ein bisschen vermisse. Aber alles hat eben seine Zeit. Die Zeit hat sich geändert, unsere Leben haben sich geändert. Manche Freundschaften schaffen es, solch gravierende Veränderungen zu überstehen, andere nicht.
Freunde, von denen man weiß, dass sie einen auch mit 80 noch im Altersheim besuchen
Diese Freunde dürfen in keinem Freunde-Portfolio fehlen. Sie überwinden alle Grenzen. Sie sitzen auf einem unbequemen Stuhl neben eurem Krankenhausbett, sie fahren tausend Kilometer durchs Land um euch in der Reha zu besuchen, sie sagen euch ehrlich ins Gesicht wenn ihr Scheiße gebaut habt. Bei jedem Umzug sind sie dabei. Sie sind Psychologen und Lebensberater. Wenn ihr keinen guten Tag habt und der Kneipenbesuch entgegen eurer Abmachung ausfallen muss, dann hängen sie mit euch auf der Couch ab.
Sie lassen sich weder von einem Rollstuhl, noch von irgendeiner sichtbaren oder unsichtbaren Behinderung abschrecken. Schon gar nicht von lächerlichen 500 km Entfernung auf der Erdkugel. Sie setzen sich einfach ins Auto oder in den Zug und kommen zu Besuch. Und für die Zeit, in der ihr euch nicht sehen könnt, gibt es ja mittlerweile ausreichend technische Möglichkeiten, bei denen nicht nur Text und Ton, sondern auch bewegte Bilder in Echtzeit übertragen werden können.
Diese Freunde besuchen euch auch mit 80 noch im Altersheim.
Freunde, die viel zu weit weg wohnen und die man gerne viel öfter sehen würde
Die Überschrift ist vermutlich selbsterklärend. Ich finde, bei manchen Freunden ist es nicht schlimm, wenn man sich nicht so oft sieht. Man telefoniert, man schickt sich Textnachrichten, man hält sich mit Fotos regelmäßig auf dem Laufenden.
Dann gibt es aber noch die, bei denen ich zum Beispiel immer das Gefühl habe, sie viel zu selten zu sehen. Die ich vermisse, wenn ich sie nicht regelmäßig in den Arm nehmen kann. Mit denen der virtuelle Kontakt das physische Zusammensein nie ganz ersetzen kann. Und bei denen der Informationsaustausch über die Entfernung irgendwie nicht reicht. Ich vermute, dass das irgendwie auch der Grund dafür ist, dass die Kommunikationsdichte zu diesen Freunden manchmal zu wünschen übrig lässt.
Während ich diese Worte schreibe, merke ich, dass mein Vorhaben gescheitert ist. Ich habe mir nämlich selbst fest versprochen, den Kontakt (wenn auch nur den virtuellen) zu gewissen lieben Freunden unbedingt wieder frequenter zu pflegen, weil die Freundschaft mir sehr wichtig ist und weil ich auf gar keinen Fall will, dass diese irgendwann im Sande verläuft.
Memo an mich selbst: Vorhaben erneuern! Melden! Und auf´s nächste echte Wiedersehen freuen!
Freunde, bei denen es nicht schlimm ist, wenn man sich nicht oft sieht
Es gibt Freundschaften, die überstehen problemlos lange Zeiten, ohne dass man sich sieht oder miteinander redet. Und vor allem ohne, dass eine der Parteien diese Freundschaft in Frage stellt. Wenn man diese Freunde wiedersieht, ist es als wäre das letzte Zusammensein erst gestern gewesen, auch wenn es schon ein Jahr her ist. Man knüpft einfach wieder genau da an, wo man zuletzt aufgehört an. Völlig egal wie lange das her ist.
Freunde, die man nur noch aus Gewohnheit als Freunde bezeichnet
Dem ein oder anderen wird auch diese Art der freundschaftlichen Beziehung nicht fremd sein.
Ich glaube, wenn man den Punkt mal erreicht hat, an dem man erkannt hat, dass einige Freundschaften nur noch aus Gewohnheit als solche existieren, fällt es auch nicht mehr schwer, die besagten Personen vom Freundes- in den Bekanntenkreis zu verschieben. Was ich nicht zwingend als schlechte Wendung betrachten würde. Im Gegenteil.
Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich angefangen mich zu fragen, was ich davon habe, Menschen als Freunde zu bezeichnen, die nur noch einen klitzekleinen Teil meines Lebens ausmachen? Die ich maximal einmal im Jahr sehe? Bei denen auch der virtuelle Kontakt auf ein Minimum gesunken ist? Ich spreche hier von Menschen, die vermutlich die meisten Fragen zu meiner grundlegenden Persönlichkeit richtig und treffend beantworten können, die im Gegensatz dazu aber wenig Plan davon haben, was ganz aktuell in meinem Leben so passiert.
Diese Menschen führe ich ab sofort doch lieber unter Gute Bekannte und habe ein gutes Gefühl dabei, zu wissen, dass wir nicht im Streit auseinander gegangen sind, sondern dass sich unsere Leben einfach auseinander entwickelt haben.
Für mich persönlich sind diese Beziehungen zu meinen „ausrangierten“ Freunden, fast ebenso wichtig wie die zu den aktuellen. Ich freue mich, wenn ich diese Menschen treffe. Zur Begrüßung umarme ich sie meistens. Ich kann immer noch längere, freundliche, interessante Gespräche mit ihnen führen. Wir können auf einer Party beispielsweise immer noch ebenso viel Spaß miteinander haben wie früher. Ihr Anteil an meinem Leben ist bloß nicht mehr groß genug, um tatsächlich als Freund oder Freundin bezeichnet zu werden.
Freunde, die man aus Gewohnheit als Bekannte bezeichnet, die eigentlich aber Freunde sind
Was in die eine Richtung funktioniert, funktioniert auch in die andere Richtung. Im selben Zuge, indem ich einige Freunde in die Bekannten-Schublade verschoben habe, habe ich konsequent auch den Rest meines Umfeldes gescannt. Dabei bin ich auf Menschen gestoßen, über die ich gewohnheitsmäßig immer als Bekannte rede, obwohl sie längst mehr sind.
Ich habe also festgestellt, dass manche „Bekannte“ viel eher die Kriterien einer Freundschaft erfüllen als manch einer aus der vorherigen Kategorie.
“Wenn wir uns nicht verändern, wachsen wir nicht. Wenn wir nicht wachsen, leben wir nicht wirklich.” – Anatole France, Schriftsteller.
Leben ist also Veränderung. Leben ist Fortschritt. Und zu sehr in der Vergangenheit festzuhängen ist sicherlich nicht förderlich für den Fortschritt. Deshalb sollten wir uns vielleicht von Zeit zu Zeit einen Überblick über die Menschen verschaffen, die irgendwie Teil unseres Lebens sind. Und gegebenenfalls deren Stellenwert neu definieren. Um ihnen den Status in unserem Leben zuzuschreiben, der ihnen gebührt. Sei es in die eine, oder auch in die andere Richtung.
Freundschaften sind wichtig!
An meine Freunde:
Falls ihr euch oben in den Kategorien nicht eindeutig wiedergefunden habt, lasst euch sagen: das macht nichts. Denn nicht jeder und jede lässt sich zu 100 Prozent irgendwo reinquetschen. Wenn ihr euch in mehreren Abschnitten gefunden habt, umso besser: dann sind wir mehrfach befreundet.:-)
Ihr wisst sicher, dass man diesen Status bei mir nicht leicht erlangt. Ihr seid die Auserwählten. Ich bin mir sicher, ihr wisst das zu schätzen. Ebenso weiß ich es zu schätzen und sehe es nicht als selbstverständlich an, zu eurem Kreis der Freunde gehören zu dürfen.