Schöne Gegend hier
Wie oft mag ich mich wohl schon auf der Heristalstraße vom kleinen nordrhein-westfälischen Herstelle zum etwas größeren hessischen Kurstädtchen Bad Karlshafen befunden haben? Nun ja, ich wohne noch nicht allzu lange in der Gegend, aber so 17, 18, 19 mal werden es schon gewesen sein.
Da ich es mir – behinderungsbedingt (nein, ich störe mich nicht an diesem Wort) – meistens auf dem Beifahrersitz bequem mache, habe ich während der Fahrt genug Zeit die Umgebung zu betrachten.
Burg Herstelle
Würde ich meinen Kopf ein paar Grad nach rechts drehen, könnte ich die mehrfach zerstörte und wieder aufgebaute Burg Herstelle (heute ein Zentrum für Kunst, Kultur und Gesundheit) sehen. Bis jetzt konnte ich noch nicht rausfinden, ob die Räumlichkeiten dort für Reiko und mich erreichbar und nutzbar sind. (Für die, die noch nicht oder nicht mehr wissen, wer Reiko ist: Reiko ist mein Rollstuhl.) Je nachdem wie sich die Gegebenheiten entpuppen, werde ich dort vielleicht irgendwann mal ein Konzert besuchen oder einen Handlettering-Kurs buchen.
Rolli-taugliche Wege
Heute interessiert mich allerdings mehr, was ich entdecke, wenn ich am Kopf meines Freundes vorbei, durch das linke, vordere Seitenfenster unseres weißen Skodas blicke. Der Campingplatz liegt schon einige Meter hinter uns. Hier habe ich nun freie Sicht auf den Wald, der sich direkt hinter der tiefer liegenden Fluss-Aue am Berg in die Höhe erhebt. Freie Sicht auf die Weser, die sich zusammen mit ihrem Radweg durch die sehenswerte Landschaft schlängelt.
Weser-Radweg
Die Abschnitte des Weser-Radwegs, die ich selbst schon befahren habe, würde ich persönlich als barrierearm und rolli-tauglich einstufen. Ich muss aber auch zugeben, dass ich bisher nur Teile davon kenne. Deshalb lasse ich mich gerne eines besseren belehren, wenn ihr da andere Erfahrungen gemacht habt.

Weser-Skywalk
Unten haben wir also die Weser und die gut befahrbaren Wege. Aber weiter oben befindet sich etwas, was meinen Blick gerade noch mehr auf sich zieht. Inmitten der Felsen und Bäume und der scheinbar unberührten Natur zeichnet sich eine Art Plattform ab. Zu dem Zeitpunkt, als ich es zum ersten Mal entdeckt habe, wusste ich noch nicht, dass es wirklich eine Plattform ist.
Fragen über Fragen
„Was ist das da oben?“
„Schatz, schau mal, da bewegt sich doch was!“
„Sind das Menschen?“
„Kann man da hoch?“
„Und falls ja, kann ich auch da hoch?“
„Mit Reiko?“
Mein Freund, der das Weser-Bergland schon seit über 40 Jahren seine Heimat nennen darf, muss den Blick gar nicht von der Straße nehmen, er muss nicht der Richtung meines ausgestreckten Fingers folgen um zumindest meine erste Frage beantworten zu können: „Das ist der Weser-Skywalk, mein Schatz.“
Sollen wir das wirklich versuchen?
Was haben wir zu verlieren?
„Du willst da hoch? Kein Problem! Zur Not trage ich dich.“
Auch wenn er es nicht hören will: ich habe den besten Mann der Welt! Er tut alles dafür, mir das Gefühl zu geben, dass so etwas wirklich kein Problem ist. Dass ich einfach, wie die meisten anderen, nicht behinderten, nicht eingeschränkten Menschen überall hin kann wo ich will. Er gibt mir das Gefühl, dass es das normalste der Welt ist, es einfach zu probieren.
Und warum eigentlich auch nicht? Ich habe ja nichts zu verlieren.
So weit, so gut die Theorie
Irgendwann werden wir das in Angriff nehmen. Auf jeden Fall. Wahrscheinlich. Vielleicht.
Jetzt haben wir sowieso keine Zeit. Gleich werden wir in der Therme in Bad Karlshafen ankommen. Mit schönen Gedanken im Kopf werde ich das Geplansche im warmen Sole-Wasser heute ganz besonders genießen können. Ich stelle mir nämlich vor, wie es wäre, wirklich den Weser-Skywalk mit dem Rollstuhl zu erkunden. Ich male mir aus, wie toll der Ausblick von da oben wäre.
Ich mache mir keine echten Hoffnungen, es sind mehr Wunschgedanken. Aber manchmal braucht es gar nicht mehr. Ich gebe mich oft mit Träumereien zufrieden. Mit Fantasien, die mir hin und wieder gefühlstechnische Höhenflüge bescheren, wie es echte Erlebnisse bisweilen nicht schaffen.
Deshalb ist es auch gar nicht schlimm für mich, dass ich nicht wirklich daran glaube, jemals den Weg da hoch zu finden. Die Vorstellung reicht mir vollkommen. Die Vorstellung und die Gedanken an meinen Lebenspartner, der mir mit seiner Positivität in solchen Situationen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Mit dem Rollstuhl zum Weser-Skywalk?
Heute, ein paar Wochen später, denke ich – abgesehen von ein paar vereinzelten, verirrten Gedanken-Ausflügen – nicht mehr an die verrückte Idee, einen vermutlich ganz und gar nicht rollstuhlfreundlichen Weg mitten im Wald zu bezwingen.
Umso mehr erstaunt mich heute Morgen mein Freund, als wir unseren Tag planen. Es ist schönstes Ausflugswetter und wir haben uns entschlossen, dieses fiese Schweinehündchen zu bekämpfen, das uns immerzu überreden will, den ganzen Tag zu Hause auf der Couch rumzugammeln.
Die Vorschläge und die Motivation sprudeln nicht gerade, aber wir sind zumindest schonmal bei der Idee eines Spazierganges angelangt. Wir sinnieren gerade noch jeder für sich darüber, wo uns unsere kleine Wanderung hinführen könnte. Während ich noch wenig antriebslos auf einen Geistesblitz warte, fällt die Entscheidung bereits mit den Worten: „Du wolltest doch mal zum Weser-Skywalk. Sollen wir das heute in Angriff nehmen?“
Weser-Skywalk, wir kommen!
Wir tun es wirklich
Echt jetzt? Der hat das nicht vergessen? Der Kampf um den Pokal, wer die meisten Dinge vergisst, ist bei uns beiden normalerweise sehr ausgeglichen. Aber das hat er sich gemerkt. Juhu!
Nachdem der Kaffee ausgetrunken, die passende Kleidung ausgewählt, die Trinkflasche gefüllt, die Blase nochmal entleert und alles ins Auto gepackt ist, kann´s losgehen.
Wann geht´s denn endlich los?
In Wirklichkeit dauert das alles etwas länger als es hier – in einen einzigen Satz gequetscht – den Anschein macht. Früher ging das alles schneller und leichtfertiger. Da habe ich mir einfach selbst schnell die Schuhe angezogen und fertig. Aber auch damit habe ich gelernt zu leben. Sowohl damit, dass ich mir eben bei vielem helfen lassen muss, als auch mit der Tatsache, dass wir für vieles sehr viel mehr Zeit einplanen müssen.
Jetzt geht´s los!
Irgendwann sitzen wir abfahrbereit im Auto. Reiko ist heute selbstverständlich mit seinen Turbo-Rädern unterwegs. Sein leises Klappern im Kofferraum hört sich irgendwie fröhlich an. Ich glaube er freut sich genauso wie ich.
Äh… Moment… wir dürfen uns nicht zu sehr freuen. Schließlich hat mein Freund gesagt, er könne uns nichts versprechen. Er sei schon jahrelang nicht mehr da oben gewesen und er könne uns überhaupt nicht sagen, wie weit wir da mit dem Rollstuhl kommen. Es könne gut sein, dass wir nach ein paar Metern wieder umkehren müssen.
Freuen oder nicht freuen?
Ich versuche es. Ich versuche, mir zu sagen: „Es ist nicht schlimm, wenn wir es nicht schaffen. Dann haben wir es wenigstens versucht.“ Per Telepathie schicke ich ein paar tröstenden Gedanken in den Kofferraum: „Wir werden andere schöne Dinge zusammen erleben. Wir müssen da nicht unbedingt hin. Außerdem… sooo hoch ist es ja gar nicht, also ist die Aussicht bestimmt auch nicht so toll wie wir denken.“
Ich versuche, mir meine Aufregung und meine Hoffnung nicht ansehen zu lassen. Warum? Weil ich im Fall der Fälle auch kein Mitleid will, wenn die Enttäuschung darüber, dass ich ein Ziel nicht erreicht habe, zu groß ist. Mein Freund sagt nichts dazu, aber ich bin mir fast sicher, dass ich meine Mimik nicht halb so gut im Griff habe wie ich es gerne hätte.
Etappe 1 – Mit dem Auto

Ich genieße die 20-minütige Autofahrt und sauge die Landschaft um mich rum in mir auf. Falls wir frühzeitig scheitern, will ich trotzdem schöne Erinnerungen und Bilder in meinem Kopf abspeichern.
Der Weg zu dem kleinen Waldparkplatz ist relativ gut ausgeschildert. Die komplette Wanderung sparen wir uns, deshalb parken wir auch direkt am Einstieg zum Weser-Skywalk. Schnell haben wir ein Schattenplätzchen am Rand gefunden, so dass hinter dem Auto noch genug Platz zum Ausladen des Rollstuhls bleibt.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen nicht so ignorant und unkollegial sind, wie man oft denkt. Fast immer findet sich jemand, der sofort hilfsbereit anbietet anzugreifen, sobald der Kofferraum aufgeht und der Rollstuhl sichtbar wird. Allerdings ist mein Freund mittlerweile so geübt darin, dass er die 35 Kilo auf den Boden gehievt hat, bevor irgendjemand auch nur registriert hat, dass hier eventuell Hilfe benötigt werden könnte.
Der erste Teil hat also schonmal gut geklappt. Doch das wird vermutlich der leichteste gewesen sein.
Etappe 2 – Mit dem Rollstuhl

Wir betrachten kurz die Info-Tafel, wenden uns dann aber zügig der Richtung zu, die uns das Schild mit dem Hinweis „Fußweg zum Weser-Skywalk“ zeigt.
Bei bestem Wander-Wetter sind wir heute bei Weitem nicht alleine hier. Perfekte 19 Grad Außentemperatur und ein wolkenloser, klarer Himmel versprechen einen weiten Blick ohne Sichtbehinderungen. Die Leute scheinen, wie wir, größtenteils gut gelaunt zu sein, aber bilde ich mir das ein, oder werfen sie uns heute besonders mitleidige Blicke zu? Besonders die, die die Route schon hinter sich haben?
Das erste Stück des Weges sieht doch ganz harmlos aus.

Der Schein trügt
Nach links zum Abhang hin ist der Pfad ziemlich abschüssig, was mir das selbstständige Fahren – trotz Turbo-Antrieben – nicht gerade erleichtert. Nach wenigen Metern, und nach nicht mehr als 5 oder 6 Einwänden meines Freundes, nehme ich das Angebot geschoben zu werden, dann doch dankbar an.
Spätestens nach der ersten Kurve hätte sich das mit dem eigenständigen Vorwärtsbewegen dann sowieso erledigt. Denn
- werden die anfangs noch kleinen, harmlosen Steinchen ab hier immer größer
- fangen hier schon die ersten Wurzeln an, Stolperfallen für uns zu errichten
- wird der Weg immer schmaler
Für Fußgänger mag die Breite ausreichen, um Wanderlustige in beide Richtungen gleichzeitig durchzulassen. Mit dem Rollstuhl ist das nicht ganz so leicht. Wir bleiben alle paar Meter stehen, um immer mal wieder die entgegenkommenden Menschen vorbei zu lassen, oder um schnellere Fußgänger von hinten überholen zu lassen.
Die mitleidigen Blicke sind keine Einbildung
Ich bin schlecht im Schätzen, aber wenn ich beziffern müsste wie viele Fremde, Touristen, Spaziergänger uns an dem Tag begegnen, käme ich locker auf 60 bis 70. Etwa 50 von ihnen haben mitleidige, ungläubige, aber auch nette und ermutigende Kommentare für uns übrig.
Von „Seid ihr sicher, dass ihr euch das antun wollt?“ oder „Das würde ich mich nicht trauen!“ über „Boah, da habt ihr euch aber was vorgenommen!“ oder „Ihr wisst, dass ihr da noch ein bisschen was vor euch habt?“ bis hin zu „Finden wir super, dass ihr euch das zutraut!“ ist alles dabei. Auch einzelne Worte wie „Respekt“, „Mutig“ oder eine einfache Daumen-nach-oben-Geste spornen uns noch mehr an, unseren Weg fortzusetzen.
Wir reagieren mit Optimismus
Unsere Erwiderungen fallen durchweg positiv aus: „Das schaffen wir schon“, „Geht nicht, gibt´s nicht“, „Ausreden zählen nicht“, „Wir wollen das schaffen, also schaffen wir das“. Was oft dann wieder einen Daumen-nach-oben oder ein „Viel Glück“ oder „Wir drücken euch die Daumen“ nach sich zieht.
Für mich ist der Tag bis hierhin schon ein voller Erfolg. Ich bin gerne in der Natur, ich bin gerne im Wald. Und ich suhle mich gerade in dem guten Gefühl hier zu sein.

Etappe 3 – Mit Muskelkraft
Nach einem guten Stück über Stock und Stein lichtet sich der Wald und wir erkennen, dass wir fast am Ziel angekommen sind. Eine einzelne, dicke, fette Wurzel haben wir noch zu überwinden, bis wir vor dem letzten Abschnitt stehen.
Das letzte Stück muss mein Schatz mich Huckepack nehmen. Reiko schafft zwar vieles, aber Treppen sind einfach nicht so sein Ding.
Glücksgefühle
Der Weg hat sich gelohnt

Über die erste Treppe erreichen wir die erste Gitterrost-Plattform, von wo sich uns ein herrlicher Blick über das obere Wesertal bietet.
Er trägt mich auch noch die zweite Treppe zum etwa 5 Meter tiefer liegenden Hauptplateau runter. Ich habe mir nicht zu viel vorgestellt.

Die Aussicht ist fantastisch und wir genießen sie ca. 20 Minuten lang bevor ich… hü-hüpf, wieder auf seinem Rücken sitze (genau genommen kann ich gar nicht wirklich hochspringen, aber ich tue trotzdem immer so als ob, bevor er mich auf seinem Buckel irgendwohin schleppt).

Mein Rollstuhl hat am oberen Ende der Stufen geduldig gewartet, bis wir ihn dort wieder abholen und uns gemeinsam auf den Rückweg machen.
Perspektivwechsel
Bevor wir uns endgültig auf den Nachhauseweg machen, entscheiden wir uns noch für einen alternativen Blickwinkel. Wir fahren mit dem Auto wieder runter ins Tal, stellen es auf einem öffentlichen Parkplatz ab und berollen/begehen den Fahrradweg, den wir eben noch aus luftiger Höhe betrachtet haben.
Zum Abschluss hätte ich gerne noch ein Foto des 4 Meter über den Klippenrand hinausragenden Skywalk von unten.
Fertig. Feierabend für heute.

Unser Fazit
Ja, es war eine Herausforderung. Und ja, der Weg zum Weser-Skywalk ist beim besten Willen nicht als barrierefreier Waldweg zu bezeichnen. Die Zweifel, die ich vorher hatte, und die natürlich durch die Bemerkungen der anderen Touristen noch verstärkt wurden, halte ich dennoch im Nachhinein für nicht gerechtfertigt, oder zumindest für leicht übertrieben. Es war anstrengend und alleine hätte ich das selbstverständlich nicht geschafft, aber es war machbar und es war schön und es hat sich gelohnt.