Leben mit einer unsichtbaren Erkrankung

Leben mit einer unsichtbaren Erkrankung

Sichtbare und unsichtbare Erkrankungen

Ihr fragt euch, wie ich im Rollstuhl sitzen und gleichzeitig von einer unsichtbaren Erkrankung reden kann? Ich will es euch in diesem Artikel erklären.

Nicht alle Erkrankungen sind sichtbar

Vielleicht seid ihr selbst betroffen. Einige von euch haben vielleicht MS (Multiple Sklerose), ME/CFS (Chronisches Fatigue Syndrom), CRPS (Komplex Regionales Schmerzsyndrom) oder Autismus. Einige leiden vielleicht an Autoimmunerkrankungen, Bindegewebserkrankungen, Rheumatischen Erkrankungen, Depressionen, Angstzuständen, Migräne, Neuromuskulären Erkrankungen, Fibromyalgie oder, oder oder…

Es gibt zahlreiche Erkrankungen und Behinderungen, die man auf den ersten Blick nicht sieht.

Ein Rollstuhl ist KEINE unsichtbare Behinderung

Ja, die Skeptiker von euch haben scheinbar erstmal Recht. Ich sitze im Rollstuhl und sollte mich selbst damit in die zweite Kategorie einsortieren. In die Kategorie, in der andere Menschen auf den ersten Blick erkennen, dass ich krank, behindert, eingeschränkt bin.

Somit ist der Umstand an sich, dass ich behindert bin, erstmal NICHT unsichtbar.

Aber, wie bei allem anderen auch, sollte man auch hier unbedingt hinter die Fassade blicken.

Ein Teil meiner Behinderung ist sehr wohl unsichtbar!

Das, was mich im Alltag am meisten einschränkt, ist nämlich nicht der Umstand, dass ich mich rollend statt laufend durch´s Leben bewege. Meine persönliche, unsichtbare Behinderung sind die Fatigue und die Schmerzen.

Aussagen wie: „Du siehst doch gar nicht krank aus“ sind nicht selten. Oder: „Warum bist du denn berentet? Du bist doch erst Mitte 30. Du musst doch nur im Sitzen arbeiten, das kannst du doch auch im Rollstuhl“.

Herausforderung: Mit den Kräften haushalten!

Kann ich auch im Rollstuhl arbeiten?

Grundsätzlich ist diese Frage selbstverständlich mit JA zu beantworten. Direkt danach kommt jedoch ein dickes ABER. Zu meiner Erkrankung gehört nämlich mehr als die offensichtliche Tatsache, dass ich nicht laufen kann. Genau genommen ist nicht mal das richtig. Denn nur weil jemand im Rollstuhl sitzt, heißt das nicht automatisch, dass er nicht laufen kann. Ich kann laufen. Nicht weit und nicht lange, aber ich kann laufen.

Warum kann ich dann also nicht mehr Vollzeit arbeiten?

Das Problem ist, dass es mich einfach nach sehr kurzer Zeit extrem anstrengt und heftige Schmerzen verursacht. Und das ist nicht nur beim Laufen der Fall, sondern auch bei jeder anderen Art von Anstrengung, egal ob körperliche oder geistige. Stichwort: Fatigue oder chronisches Erschöpfungssyndrom, welches ich in meinem Artikel Schuhe im Weg schon mal kurz angeschnitten habe.

Die Antwort auf die Frage, warum ich nicht mehr vollschichtig arbeiten kann, lautet: Weil ich krank bin. Weil ich nicht mehr leistungsfähig bin. Weil ich extrem mit meinen Kräften haushalten muss. Weil ich viele Dinge zwar noch machen kann, aber eben nur einmal und nur kurz. Grundsätzlich KANN ich meine Computermaus bedienen, und ich KANN auch auf der Tastatur tippen.

Der Unterschied zu vorher ist, dass mich zwei Stunden Computerarbeit zum Beispiel so sehr anstrengen, dass ich mich danach mehrere Stunden lang hinlegen muss. Ohne Schlaf und Regeneration geht sonst nämlich einfach NICHTS mehr. Nach 45 Minuten Ergotherapie sind die darauffolgenden 3 bis 4 Stunden nicht nutzbar, nicht zum körperlichen Arbeiten, nicht zum geistigen Arbeiten, nicht zum Essen, nicht zum Führen von anspruchsvollen Gesprächen.

Wer bitte läuft untrainiert einen Marathon?

Wenn ich Freunden oder Bekannten erklären will, wie es sich nach solch einer für mich extremen Anstrengung anfühlt, benutze ich gerne einen Vergleich.

Stellt euch vor, ihr seid völlig untrainiert und müsstet einen Marathon laufen. Stellt euch vor, ihr habt enorm viel Ehrgeiz und wollt das unbedingt schaffen. Mit ganz, ganz viel Entschlossenheit, Mühe und Zähne zusammenbeißen kommt ihr vielleicht sogar im Ziel an. Ihr habt die ganzen 42,195 Kilometer alle Kräfte mobilisiert, die ihr irgendwie zusammenkratzen konntet, aber irgendwann ist Schluss. Mit dem letzten Fuß, den ihr über die Ziellinie schleppt, brecht ihr zusammen. Ihr habt es geschafft. Aber ihr seid jetzt auch geschafft. Ihr habt euch nicht nur angestrengt, sondern völlig ÜBERanstrengt.

Der ganze Alltag ist ein Marathonlauf

Für mich ist jede Bemühung im Alltag ein Marathonlauf. Für die einfachsten Tätigkeiten muss ich alle Kräfte aktivieren. Aber ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen wie schwer mir die Dinge oft fallen. Ich versuche zu verstecken, wie viel Kraft mich z.B. das aufrechte Sitzen oder die angeregte Unterhaltung gerade kostet.

Meistens gelingt mir das auch ganz gut. Die meisten um mich rum kriegen von den Strapazen und Anstrengungen wenig bis gar nichts mit. Sie sehen nur, dass ich hier sitze, wie andere auch. Ich unterhalte mich, ich lächle, ich lache. In ihren Augen also alles ganz normal.

Das Umfeld sieht nur, was es sehen soll und will

Die Leute sehen nicht, wie es mir danach geht. Sie sehen nicht die Schwäche, die Erschöpfung, die Kraftlosigkeit. Sie sehen nicht die Zeit, die für die Wiederherstellung von Nöten sein wird. Auch nicht wie viele Medikamente ich mir einflößen muss, um die Überlastungs-Schmerzen einigermaßen erträglich zu machen. Sie sehen nicht, dass ich teilweise 3 Tage lang im Bett liegen muss, wenn ich mir mal wieder zu viel zugemutet habe. Sie spüren nicht die Gewissensbisse meinem Körper gegenüber, und hören nicht die lautlosen Entschuldigungen dafür, dass ich ihm das angetan habe. Die Leute kriegen nichts von dem immer wiederkehrenden Versprechen mit, das ich meinem Körper gebe, beim nächsten Mal etwas früher die Reißleine zu ziehen.

Positivität!

Ich lasse die Menschen um mich rum nicht alles sehen

Ich muss nicht alles mit meinen Mitmenschen teilen. Ich muss meine Schmerzen und meine Müdigkeit nicht dauerhaft zur Schau stellen. So lange ich die Wahl habe, möchte ich selbst bestimmen, wie die Menschen um mich rum mich wahrnehmen. Ich möchte nicht negativ wahrgenommen werden. Ich möchte, dass die Menschen ein positives Gefühl haben, wenn sie mich sehen und mit mir reden.

Deshalb konzentriere ich mich darauf, meine guten Gedanken und Gefühle mit anderen zu teilen. Es ist mir wichtig, dass sie sehen, dass ich gerne lebe. Dass ich Spaß am Leben habe. Dass ich tolle Dinge erleben kann. Auch wenn das manchmal heißt, einen besonderen Tag zu erleben, Erinnerungen zu sammeln, (wie z. B. bei unserem Ausflug zum Weser-Skywalk oder zur Krukenburg) und mich danach dann 2 Tage erholen zu müssen.

Meistens gelingt es mir sogar ganz gut, während der schönen Stunden die Anstrengung zumindest teilweise selbst zu verdrängen und mich einfach nur glücklich zu fühlen.

Was nicht sichtbar ist, ist nicht da

„Aber Sie sehen doch viel zu gut aus, um behindert zu sein“

„Für wen wollen Sie die Schwerbehinderung beantragen? Für sich selbst? Aber Sie sehen doch viel zu gut aus, um behindert zu sein.“

Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich an diese anklagende Aussage einer Beamtin, als es um die Festlegung meines Schwerbehinderten-Status ging. Dank Berichten von Ärzten und Therapeuten ging das Ganze bei mir glücklicherweise relativ unspektakulär und schnell über die Bühne. Mir ist aber sehr wohl bewusst, dass das oft auch ganz anders laufen kann. Viele Menschen müssen monate-, teilweise jahrelang um die richtige und gerechte Einordnung ihrer Einschränkungen kämpfen.

Wie sieht ein schwerbehinderter Mensch aus?

Meiner Meinung nach ist es völlig egal, ob man eine Erkrankung sieht oder nicht sieht, die Menschen urteilen oft nur nach dem ersten Schein.

Eine Frau sitzt im Rollstuhl –> sie kann nicht laufen

Die Frau steht aus dem Rollstuhl auf –> sie simuliert

Ein Mann lacht –> er kann keine Depression haben

Der Mann weint –> er hat automatisch eine Depression

zusammenfassend:

  1. Ein Mensch sieht krank aus, also ist er krank.
  2. Ein Mensch sieht NICHT krank aus, also kann er auch NICHT wirklich krank oder behindert sein.

Wie muss ich denn aussehen, dass ich dem allgemeinen Stereotypus eines schwerbehinderten Menschen gerecht werde? Darf ich mich nicht mehr schminken? Darf ich mich ab jetzt nur noch mit ungekämmten, fettigen Haaren unter Menschen wagen? Sind ordentliche, saubere Klamotten womöglich auch ein No-Go?

Die Akzeptanz muss größer werden!

Niemand sollte sich rechtfertigen müssen!

Es nervt mich, dass man ständig das Gefühl hat, sich erklären und rechtfertigen zu müssen. Das sollte einfach nicht so sein. Ich wünsche mir, dass die Akzeptanz in der Gesellschaft für unsichtbare sowie für „nur“ zeitweise und teilweise sichtbare Erkrankungen größer wird.

Ich denke, es würde viel helfen, wenn jeder mal darüber nachdenkt, ob sein Denken und seine Akzeptanz, unsichtbaren Erkrankungen und individuellen Bedürfnissen gegenüber, noch in die heutige Zeit passt. Damit meine ich, in die heutige Zeit des laut getönten: „Wir leben Inklusion“.

Inklusion beginnt im Kopf jedes Einzelnen

Zur echten Inklusion gehört nämlich mehr als das Bauen von Rampen für Rollstuhlfahrer oder das Einführen von Bodenleitsystemen für blinde und sehbehinderte Menschen.

Das Erkennen und Akzeptieren von Besonderheiten und individuellen Bedürfnissen muss im Kopf jedes Einzelnen anfangen. Es muss einfach für alle selbstverständlich sein, dass jeder irgendwie besonders ist. Jeder hat seine ganz persönlichen Probleme und sein eigenes Päckchen zu tragen. Manche dieser Päckchen, dieser Krankheiten, dieser Behinderungen sind erst auf den zweiten Blick sichtbar und manche bleiben auch nach genauerem Hinsehen immer noch unsichtbar.

Viele leben mit einer unsichtbaren Erkrankung

Wir müssen aufhören, immer nach dem ersten Schein zu urteilen.

Und wir müssen uns bewusst machen, wie viele Menschen in unserem Umfeld mit unsichtbaren Erkrankungen zu kämpfen haben. Für diese Menschen ist es schwer genug, überhaupt mit ihren Erkrankungen klar zu kommen. Sie sollten sich nicht auch noch damit rumschlagen müssen, sich ständig entschuldigen und verteidigen zu müssen.

Nur so kann eine Basis geschaffen werden, auf der aufgebaut werden kann. Wo sich am Ende niemand mehr für seine Einschränkungen rechtfertigen muss. Und wo sich niemand mehr aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung ausgegrenzt, unverstanden, anders fühlen muss.

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