Unangebrachtes Mitleid

Mitleid - nein danke!

Verschiedene Arten von Reha-Bekanntschaften

Ich befinde mich derzeit in einer Reha-Klinik. Die Hälfte meines 4-wöchigen, stationären Aufenthaltes habe ich bereits hinter mir. Wie in jeder meiner vorherigen Rehas habe ich auch dieses Mal wieder viele verschiedene Menschen kennengelernt. Diese Bekanntschaften kann ich für mich ganz grob in 3 verschiedene Kategorien einordnen.

  1. Die, mit denen man sich während des Aufenthaltes gut versteht. Mit denen bleibt man erfahrungsgemäß auch über die Reha hinaus noch eine Zeitlang in Verbindung, bis der Kontakt immer weniger wird und irgendwann dann komplett abbricht.
  2. Die wenigen, die es geschafft haben, fester Bestandteil meines Lebens zu bleiben. Darunter fällt bei mir zum einen (und wichtigsten) die Liebe meines Lebens. Mein fehlendes Puzzleteil, das ich verrückterweise tatsächlich in der Reha-Klinik gefunden habe, in der ich mich aktuell wieder befinde. In diese Kategorie möchte ich aber auch ein paar tolle Menschen einsortieren, die ich über die Jahre und Rehas kennengelernt habe. Mit denen mir der regelmäßige Austausch über gleiche und ähnliche Erkrankungen sehr wichtig geworden ist.
  3. Die, mit denen ich in den wenigen Wochen immer mal wieder gewollt oder ungewollt Berührungspunkte habe, mit denen ich in meinem wahren Leben außerhalb der Reha-Blase aber niemals freiwillig was zu tun haben würde.

Von zwei Exemplaren dieser dritten Kategorie wurde ich heute unfreiwillig dazu inspiriert, etwas zum Thema Unangebrachtes Mitleid zu schreiben. Die beiden „Zusammenstöße“ haben mich dazu veranlasst, sofort nach meinem Notizbuch zu greifen und meine Gedanken aufzuschreiben.

Mitleid im Fahrstuhl

Heute Morgen betrete – oder besser gesagt: berolle – ich den Fahrstuhl, weil meine erste Therapie für heute im Untergeschoss stattfindet. Ich bin dank des Frühstücks frisch gestärkt, dank genügend Schlaf und der frühen Stunde noch relativ fit, dank des schönen Wetters gut gelaunt.

Mitleid im Fahrstuhl

Zuerst befinde ich mich noch alleine im Aufzug. Doch kurz bevor die Tür sich schließt, gesellt sich eine etwa 60-jährige Dame mit ihrem Rollator zu mir. Ich grüße freundlich und frage ob sie mit nach unten fährt oder ob ich den Knopf nach oben für sie drücken soll. Ich hätte mit einem „Guten Morgen“ oder einem „Danke, ich fahre mit nach unten“ gerechnet. Da erstmal keine Antwort kommt, suche ich den Blickkontakt, um herauszufinden ob sie mich gehört und verstanden hat.

Der Blick spricht Bände

Ich sehe in ihr Gesicht und mir ist sofort alles klar. Diesen mitleidigen Blick kenne ich. Schon wieder eine, die mir gleich sagen wird: „Du armes, armes Kind. So jung und schon so krank. Das tut mir so leid für dich.“

Alternative Formulierungen

Tatsächlich drückt sie sich ein klein wenig anders aus. Ihre genauen Worte sind: „Wenn ich Sie so sehe, kann ich nur Mitleid mit Ihnen haben. Das ist so, so schlimm.“ Und als sie merkt, dass die Tränen in ihren Augen nicht unentdeckt geblieben sind, schießt sie noch hinterher: „Entschuldigen Sie, aber wenn ich so etwas trauriges sehe, habe ich mich nicht im Griff, da kann ich nur noch weinen.“

Noch mehr Mitleid?

Von der ersten Begegnung heute Morgen noch relativ unbeeindruckt (es ist schließlich nicht so, als hätte ich solche Situationen nicht schon öfter erlebt), frage ich mich wenige Stunden später ernsthaft, ob heute der offizielle Tag des übertriebenen Mitleids ist.

Mitleid im Schwimmbad

Mit meiner Pool-Nudel hänge ich gemütlich im warmen Wasser des Therapiebeckens, als mich der einzige andere Badegast anspricht. Nicht direkt, das wäre ja zu auffällig. Vorher hat er mich schon ca. 20 Minuten lang beobachtet, gemustert, gescannt. Hat seinen Blick immer wieder von mir zu meinem Rollstuhl am Beckenrand wandern lassen. Hin und her. Her und hin. Es war nicht zu verkennen, dass er gerne etwas sagen will.

Ich sage heute mal nichts

Manchmal spreche ich solche Menschen direkt an. Ich hätte fragen können, ob er was wissen will oder ob mit mir oder meinem Rollstuhl etwas nicht in Ordnung ist. Doch heute ist mir nicht danach. Es ist nicht immer an mir, die Leute aus ihrer Befangenheit zu erlösen. Heute warte ich einfach ab und schiele ab und zu in Richtung der großen Wanduhr, weil ich eine Wette mit mir selbst am laufen habe, ob er sich innerhalb der nächsten 15 Minuten überwinden kann, das loszuwerden, was ihm ganz offensichtlich unter den Nägeln brennt.

Hätte er sich mal besser nicht getraut

Schon bei seinem Einleitungssatz muss ich etwas schmunzeln: „Entschuldigen Sie, aber ich kann mich jetzt nicht mehr zurückhalten. Ich muss Sie jetzt doch ansprechen. Ist das da Ihrer?“ Sein Blick geht Richtung Rollstuhl. Nach meiner Bejahung, geht das Gespräch sinngemäß so weiter:

„Oh wie schlimm! Ich habe das schon befürchtet. Sonst ist ja niemand hier, dem der gehören könnte. Wird das denn wieder oder sind Sie für den Rest Ihres Lebens an das Ding gefesselt?“

Ich erteile bereitwillig Auskunft

Da er nach meinen ersten zusammenfassenden Antworten weiter nachfragt und Interesse an meiner Krankheit zeigt, erzähle ich ihm ein bisschen was von mir. Außerdem ist mir der Kerl nicht unsympathisch und ich bin in einer guten Verfassung, so dass ich ihm geduldig erklären kann, wieso ich den Rollstuhl brauche und dass ich mich weder körperlich noch mental an ihn gefesselt fühle.

Er hört mir zwar aufmerksam zu und nickt auch immer mal wieder höflich, aber ich merke schon, dass er meine Ausführungen nicht nachvollziehen kann. Dass der Rollstuhl keine Strafe für mich ist, sondern eine große Hilfe in meinem Leben hört er sich noch bereitwillig an.

Aber als ich ihm dann auch noch mitteile, dass „das Ding“ für mich kein Ding ist, sondern einen Namen hat und Rox heißt, ist dann anscheinend zu viel.

Da bricht das Mitleid dann aus ihm raus

Es tue ihm so leid. Aber er finde es schön, dass ich trotzdem lachen kann. Wieso denn trotzdem? Was soll das? Seit wann ist Lachen ein Privileg, das nur gesunden Menschen vorbehalten ist?

Auf meine Frage, was genau ihm so leid tue, kommt nur sowas wie: „Naja, Ihre ganze Situation. Das ist doch kein schönes Leben.“ Ich denke mir nur: Gut, dass er mir das sagt, denn ich armes, krankes, behindertes Krüppelinchen war bis jetzt nämlich ganz zufrieden mit meinem Leben. Wenn er mir nicht die Augen geöffnet hätte, hätte ich womöglich einfach weitergelebt wie bisher. Ironie aus.

Manche Menschen sind einfach beratungsresistent

Trotz aller Geduld und Bemühungen meinerseits, ihm eine andere Sichtweise näher zu bringen, bleibt er dabei: Das alles sei einfach nur schlimm, und er könne so niemals leben.

Nun gut, dann hat er ja Glück, dass er so nicht leben muss. Denn selbst wenn ich könnte, ich würde nicht mit ihm tauschen wollen. Dann doch lieber meine körperliche Behinderung als seine begrenzte Sicht auf die Welt und diese unerträgliche Negativität und Schwarzseherei.

Ich bin nicht bemitleidenswert!

Mitleid für Rosalie? Nein, danke! Ich will einfach nur ein normales und glückliches Leben führen.

Auch wenn ich die beiden Situationen heute genauso erlebt habe, benutze ich sie nur als Beispiel. Denn ich komme immer wieder in Situationen, in denen Menschen Mitleid empfinden. Meiner Meinung nach macht es auch keinen Unterschied, ob sie ihre Mitleidsbekundungen offen loswerden oder ob sie erfolglos versuchen zu verstecken, was sie empfinden. So oder so ist es völlig fehl am Platze.

Ich finde eher SIE bemitleidenswert

Eine fremde Frau, die für mich weint, weil sie der Meinung ist, dass ein Leben im Rollstuhl nicht lebenswert ist.

Ein fremder Mann, der im Verlauf unseres Gespräches tatsächlich die Worte benutzt: „Das ist wirklich bemitleidenswert“.

Was soll ich dazu sagen? Am liebsten würde ich den beiden die Wahrheit sagen: Nämlich, dass ich eher SIE bemitleidenswert finde.

Mit ihren starren Weltansichten à la: „Oh mein Gott, die arme Frau sitzt im Rollstuhl! Die MUSS ja ein ganz, ganz schlimmes und trauriges Leben führen.“ Mit ihrer kleingeistigen Festgefahrenheit, die ihnen die Vorstellung verbietet, dass ich trotzdem ein gutes Leben führen kann, dass ich glücklich bin, dass ich Spaß haben kann, dass ich mich nicht verstecke und vergrabe.

Und dabei kennen sie nicht mal meine ganzen Einschränkungen, sie sehen ja nur den Rollstuhl. Wenn der alleine schon ausreicht, mich und mein Leben mit dem Etikett bemitleidenswert zu versehen, will ich mir ihre Reaktionen auf den unsichtbaren Teil meiner Erkrankung gar nicht vorstellen.

Wir wollen kein Mitleid!

Obwohl ich natürlich nur für mich sprechen kann, bin ich mir sicher, dass es viele Menschen mit Behinderung gibt, die diese Message genauso unterstützen würden. Für die, die sich mit dieser Aussage nicht identifizieren können: Das soll nicht verallgemeinert klingen, ich will den Worten mit meiner Formulierung einfach etwas mehr Kraft verleihen. Ohne eine ganze Gruppe von Menschen über einen Kamm zu scheren und ohne anderen meine Worte in den Mund legen zu wollen, habe ich mich an dieser Stelle bewusst für das WIR entschieden.

Wir wollen kein Mitleid. Es ist unangebracht.

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