Von den Hemmungen, den Rollstuhl zu benutzen

Hemmungen, den Rollstuhl zu benutzen

Der Rollstuhl gehört einfach dazu

In einem meiner ersten Blogeinträge habe ich euch grob meinen Weg zum Rollstuhl skizziert. Außerdem könnt ihr dort lesen, dass mir die letztendliche Entscheidung, das Hilfsmittel anzunehmen, nicht schwer gefallen ist. Mittlerweile solltet ihr auch mitbekommen haben, dass ich eigentlich keine Hemmungen habe, den Rollstuhl zu benutzen. Was heißt hier „eigentlich“?

Nun… Als Teilzeit-Rollstuhlfahrer gibt es immer wieder Situationen, in denen man vor der Entscheidung steht: Nehme ich den Rollstuhl mit oder schaffe ich es ohne? Diese Entscheidungen sind nicht immer einfach zu fällen. Um euch einen kleinen Einblick in die Komplexität dieser Fragestellung zu geben, ist mir dieses Thema einen Artikel wert.

Mein Umzug ins Weserbergland war auf vielen Ebenen ein Neuanfang. Es ist nicht so, dass ich strikt alles meide, was ohne Treppen nicht erreichbar ist. Aber wenn man sowieso von vorne anfängt, und die Gegend von Anfang an mit Rollstuhl kennenlernt, orientiert man sich automatisch natürlich in Richtung der barrierefreien Angebote. Logischerweise werden dann eher die Lokalitäten und Läden zur regelmäßigen Anlaufstelle, die man ohne Umstände selbstständig erreichen und besuchen kann.

Im Gegenzug hat unsere Kleinstadt mich und meine Rollstühle ebenfalls von Anfang an zusammen kennengelernt. Ich glaube, dass genau das der Grund für das Fehlen jeglicher Hemmungen ist, hier mit Reiko oder Rox auf Tour zu gehen. Hier ist es so normal, weil man mich nicht anders kennt.

Heimaturlaub

Nicht ganz so einfach stellt sich die Lage dar, wenn man eine Umgebung über 30 Jahre lang auf 2 Beinen belebt hat.

Ganz aktuell habe ich wieder 7 Tage in meiner alten Heimat hinter mir. Da, wo man nicht vor die Tür gehen kann, ohne alle paar Meter einem Freund, einem Bekannten, einem Vereinskameraden über den Weg zu laufen bzw. zu rollen, für den man das eigentliche Ziel für mindestens mal einen kurzen Plausch gerne aus den Augen verliert. Da, wo es mehr potentielle Familien- und Freunde-Dates gibt, als ich in der Lage bin, in eine Woche rein zu quetschen. Da, wo ich mich wohlfühle. Da, wo ich zu Hause war (und im Herzen immer noch bin).

Aber auch da, wo der Großteil der Leute mich laufend, und nicht rollend kennt.

Ich kann nicht zählen, wie oft ich im Laufe der letzten Woche die Frage beantworten musste: „Mit oder ohne Rollstuhl?“ Währenddessen ist mir das gar nicht so aufgefallen, aber rückblickend betrachtet muss ich beschämend zugeben, dass ich mich viel zu oft gegen mein geliebtes, rollendes Hilfsmittel entschieden habe. Immer nach dem Motto: Es geht ja auch ohne.

Ja, es geht manchmal ohne. Irgendwie. Aber muss es das auch? Die Antwort auf diese Frage lautet ganz klar: NEIN. Muss es nicht. Im Grunde mache ich mit jedem einzelnen Zurücklassen meines Freundes wieder einen Schritt zurück.

Zurück in die Richtung, aus der ich vor Jahren gekommen bin. Zurück in die Zeit des eingeschränkten Bewegungsradius, in die Zeit der dauerhaften Überlastung. Zurück in die Zeit des Dauerschmerzes, der mir am Ende des Tages die Verzweiflungstränen in die Augen treibt. Zurück zu durchwachten Nächten, Komplettausfällen meiner Gliedmaßen, pürierten Speisen, Spuckschüsseln und grenzüberschreitender Schmerzmittel-Dosierung.

Zwischen den (Roll)-stühlen – Warum quält man sich so?

Ich habe mir die letzten Tage viele Gedanken darüber gemacht, was genau das Problem ist. Warum ich es in so vielen Situationen nicht schaffe, das durchzusetzen oder einzufordern, wovon ich weiß, dass es das beste für mich und meinen Körper ist.

Während ich diesen Artikel hier schreibe und darüber nachdenke, glaube ich 4 Punkte in nicht gewichteter Reihenfolge aufzählen zu können, die mich immer wieder zu der unvernünftigen Entscheidung bewegen, die Räder im Auto oder teilweise sogar ganz zu Hause zu lassen.

Nein, ich bin weder Mutter Teresa, noch bin ich der gutmütigste oder selbstloseste Mensch der Welt. Aber egal wo und wann und weswegen man Entscheidungen treffen muss, im Grunde ist es ja immer ein Gegeneinander-Abwiegen der verschiedenen Möglichkeiten.

In diesem speziellen Fall dürft ihr den Begriff „Wiegen“ mal wörtlich nehmen. Denn wenn es darum geht, den Rollstuhl mitzunehmen – oder eben nicht – ist das Gewicht oft ein entscheidender Faktor. Denn selbst wenn Turbo-Reiko zum Transport in 3 Teile (Gestell und 2 Räder) zerlegt wird, bringt jedes Teil für sich schon etwa 10 Kilo auf die Waage.

Ich stelle mir immer die Frage: Ist es den Aufwand wert? Bin ich zum Beispiel zum Kaffee bei einer Tante eingeladen, stelle ich erstmal eine Kosten/Nutzen-Rechnung auf.

Nutzen

  • Ich hätte meinen Rollstuhl dabei, und könnte – wo immer möglich – Schritte, und somit auch wichtige Kräfte sparen

Kosten

  • Jemand muss den Rollstuhl auseinander bauen
  • aus dem ersten Stock runter schleppen (d.h. zusätzlich zu der Runde Treppe laufen mit mir zusammen, noch 3 mal hoch und runter mit jeweils einem Reiko-Teil zu jeweils 10 kg)
  • ins Auto verladen
  • evtl. noch das Auto extra umbauen (z.B. Kofferraumabdeckung raus; Kindersitz ausbauen; Rückbank umklappen)
  • Rollstuhl wieder ausladen
  • alle Teile einzeln in den ersten Stock hoch schleppen
  • wieder zusammenbauen
  • und am Ende das Ganze nochmal rückwärts

Dann überlege ich natürlich, ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann, für meinen eigenen, „kleinen“ persönlichen Nutzen meinen Freunden und Familienmitgliedern das alles aufzuhalsen. Dann geht die Überlegung weiter: Wäre er denn wirklich so eine große Hilfe? Klar, ohne fehlt mir die Freiheit, mich frei bewegen zu können. Aber dann bleibe ich eben auf der Couch sitzen und dann ist es auch gut. Die Anzahl der Wege, die ich bezwingen muss, um zur Toilette zu gelangen, kann ich bestimmt minimieren, indem ich die Flüssigkeitszufuhr gering halte.

Niemand muss mich auf den Fehler in meinen Rechnungen hinweisen. Mir ist wohl bewusst, dass ich meinen Eigenanteil dabei regelmäßig unter den Tisch fallen lassen. Aber so bin ich nun mal. Statt die anderen bezahlen zu lassen, indem ich zugebe, dass ich meinen Rolli trotzdem gerne bei mir hätte (auch wenn der Aufwand hoch ist), beiße ich lieber auf die Zähne und bezahle später selbst dafür.

Manchmal muss ich mir selbst auf die Finger klopfen, wenn ich mal wieder versuche, die Einfachheit der Situation herbei zwingen zu wollen, indem ich auf augenscheinlich unnötige Komplikationen (in diesem Fall eben die Mitnahme des Rollstuhls) verzichte. Natürlich ist mir bewusst, dass ich einem Trugschluss auferlegen wäre, wenn ich ernsthaft glauben würde, es damit für alle zu vereinfachen. Denn wirklich einfacher mache ich es nur für die anderen, und nur für den Moment.

Beispiel: Eine Freundin fragt, was ich heute vorhabe. Ich sage ihr, dass ich gleich zum Frühstück verabredet bin, was erfahrungsgemäß einige Stunden in Anspruch nehmen wird. Sie fragt weiter: „Und danach?“ Ich antworte: „Danach brauche ich dringend eine Pause und Regenerationszeit.“ Sie: „Oh Prima. Wenn du sonst nichts mehr vor hast, willst du dann, nachdem du geruht hast, zu uns kommen? Ich hole dich ab. Gegen 14 Uhr? Dann können wir abends noch gemütlich zusammen grillen. Natürlich nur, wenn dir das nicht zu viel ist.“

Doch. Es ist mir zu viel. Der Tag ist noch frisch, aber ich habe jetzt schon Schmerzen, weil mein Energieverbrauch schon seit Tagen auf Reserve läuft. Auf einer Reserve, die selbst schon Reserven anzapfen muss, die eigentlich gar nicht vorhanden sind.

Aber ich will mich ja mit ihr treffen. Und ich will Zeit mit ihr und ihrer Familie verbringen. Und mit ihnen grillen. Und nicht nur einen schönen Nachmittag, sondern auch einen schönen Abend haben. Deshalb höre ich mich sagen: „Ja, gerne. Du musst mir dann nur irgendwie mit den Treppen helfen.“

Aber warum?

Warum traue ich mich nicht, zuzugeben, dass mir das zu viel ist? Ich könnte ihr erklären, dass mich das unbequeme Sitzen und die stundenlangen Unterhaltungen mehr anstrengen als sie sich vorstellen kann. Ich könnte ihr sagen, dass es mit einer Stunde Mittagsruhe nicht getan ist. Dass ich nach dem Frühstückstreff vernünftigerweise jegliche Aktivitäten mindestens für den Rest des Tages absagen sollte. Ich könnte erneut auf die Löffel-Theorie (Spoon Theory) verweisen, womit ich die Sache mit dem Energie-Management immer gerne erkläre. Meine Freundin hätte Verständnis, das weiß ich. Sie kennt das ja schon.

Und trotzdem stehen in diesem Moment die Hemmungen im Vordergrund, die mich daran hindern, zuzugeben, wie wenig belastbar ich bin. Und als wäre das nicht schon genug, entscheide ich mich auch noch dazu, den Rollstuhl zu Hause zu lassen. Denn – siehe Punkt 1 (weiter oben): Ich will ihr keine Umstände bereiten.

So kommt es, wie es eben kommt: Ich greife immer weiter vor und leihe mir fleißig weiter die Löffel der kommenden Tage (siehe: Spoon Theory). Ich freue mich auf den Tag, ich weiß, wir werden Spaß haben. Aber nicht ohne zu wissen, was unweigerlich kommen wird. Es ist Spaß auf Pump. Wer sich was leiht, muss das Geliehene irgendwann auch wieder zurück zahlen.

Für die allermeisten meiner Bekannten ist es zwar längst keine Überraschung mehr, wenn ich im Rollstuhl daherkomme, dennoch kann ich diesen Aspekt nicht ganz unter den Tisch fallen lassen. Denn immerhin kennt man mich hier anders. Hier ist es nicht wie in meiner Wahlheimat, wo die Einheit Rollstuhl/Rosalie eine Selbstverständlichkeit ist. Hier sieht man mich nur noch selten, so dass es nur verständlich ist, dass das Bild der laufenden Rosalie immer noch vorherrscht in den Köpfen der Menschen.

Oder vielleicht auch eher in meinem eigenen Kopf? Dieser Gedanke bringt mich zu Punkt 4.

Wahrscheinlich ist es nicht mal hauptsächlich der Blick, den andere auf mich haben. Sondern vielmehr mein Bild von mir selbst, das ich mit meinem ehemaligen Zuhause in Verbindung bringe.

Dieses Bild beinhaltet weder Hilfsmittel noch eine Begleitperson, die – siehe Kosten-Seite (weiter oben) – im Verhältnis jede Menge zu leisten hätte, wenn ich mich beispielsweise bloß auf ein Bier in der Kneipe treffen will. Dieses Bild beinhaltet auch nicht die eingeschränkte Kneipenwahl, wenn man Wert auf stufenlosen Zugang oder auf nutzbare Toiletten legt (in diesem Fall käme dann übrigens keine einzige in Frage).

Es ist, als gehöre der Rollstuhl nicht hierher, nicht in dieses (mein altes) Leben. Ich glaube, ein bisschen genieße ich es einfach, in die Vergangenheit einzutauchen und mich der Vorstellung hinzugeben, mich in einem Leben zu befinden, in dem die Spontanität und Einfachheit, die mir so fehlen, keine Wunschträume sind.

Möglicherweise helfen mir die wenigen rollstuhlfreien Stunden dabei, diese Illusion der Vergangenheit für kurze Zeit aufrecht zu erhalten. Zumindest teilweise. Denn um beim Beispiel des Kneipenbesuchs zu bleiben, schaffe ich hier den Weg zur Toilette vielleicht einmal alleine. Aber spätestens, wenn die Blase ein zweites Mal geleert werden will, werde ich wieder auf den Boden der Tatsachen geholt, indem ich jemanden bitten muss, mich zum Klo zu bringen.

Bis dahin genieße ich die Zeit.

Rückkehr ins normale Leben

Immer im Hinterkopf: das Wissen, dass es bald wieder an der Zeit ist, in die Realität zurückzukehren. In mein echtes Leben, in dem ich einen wundervollen Partner an meiner Seite habe, der mich immer wieder daran erinnert, wie wichtig es ist, auf meinen Körper zu hören, wenn der mir das Signal gibt: „Das ist zu viel“.

Zurück nach Hause, wo ich mich erstmal eine Zeitlang von den Strapazen der letzten Tage erholen muss. Wo ich mich dem Abrechnungstag geschlagen geben muss. Da ich mein Kontingent in der letzten Woche weit überschritten habe, heißt das, dass ich die nächsten Tage mit einer äußerst begrenzten Menge an Löffeln überstehen muss.

Zurück nach Hause, wo ich, nachdem meine Reserven wieder aufgefüllt sind, wieder ohne große Barrieren alles Alltägliche rollend erreichen kann. Wo es mich weniger Überwindung kostet, mir helfen zu lassen. Und wo ich keine Hemmungen habe, mit Rollstuhl gesehen zu werden.

Zurück in mein Leben, in dem Rox und Reiko feste Bestandteile sind.

One thought on “Von den Hemmungen, den Rollstuhl zu benutzen

  1. Ich will nicht, dass du in deinem alten Leben Rücksicht auf UNS nimmst .Wir sind froh wenn du da bist und wollen nicht dass du dich übernimmst. Hdl

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